Neue Westfälische Warburger Zeitung
Donnerstag, 7. November 1996
Tü!Tü!s" Traum von einer anderen Welt
Eine junge Aussteigerin macht auf ihrer Reise quer durch Deutschland in Warburg Station
Warburg (tbv). Gespräche erwünscht" steht auf einem Transparent, das die junge Frau auf dem Warburger Neustadtmarkt zwischen dem Pfosten eines Verkehrsschildes und einem Blumenkübel befestigt hat. Sie wartet darauf, daß Menschen stehen bleiben, mit ihr diskutieren. Diskutieren über ihre Vorstellungen von einer anderen Welt — ohne Herrschaftssystem" des Staates, ohne Konkurrenzdenken, ohne Geld.
Hallo, ich bin Tü!Tü!", stellt sie sich mit einem freundlichen Lächeln vor, wenn jemand auf sie zugeht und sie anspricht. Sie selbst tut diesen ersten Schritt nicht — ganz bewußt nicht. Ich möchte mich niemandem aufdrängen."
Tü!Tü!" möchte aufmerksam machen. Nicht auf sich selbst, sondern auf eine andere Lebensart. Sie ist eine Aussteigerin, hat die Brücken zur bürgerlichen Existenz abgebrochen. Bis ich 16,17 war, habe ich gelebt wie die meisten anderen. Dann setzte langsam ein Umdenken ein. Ich empfand den Umgang der Menschen untereinander als ziemlich oberflächlich, allein orientiert an äußerer Anerkennung, Konsum und Geld. Aber ich wollte mein Leben anders gestalten."
Acht Wochen vor dem Abitur schmiß sie die Schule. Ich wollte keine Karriere machen, sondern insgesamt verantwortlich leben. Dazu ist ein einfaches Leben erste Voraussetzung, denn nur so läßt sich auf Dauer das Handeln mit all seinen Wirkungen überschauen. Zu diesem Leben gehöre absolute radikale Gewaltfreiheit (Korrektur Tü!Tü!) — die auch dem gesellschaftlichen Durchsetzungskampf widerspräche.
Aus dem gleichen Gedanken lehnt die heute 22jährige die Staatsgewalt" ab. Der Staat übt Herrschaft aus, die von der Masse stillschweigend geduldet wird." Brigitte Kälin, so der bürgerliche Name der aus der Nähe von Schwäbisch Gmünd stammenden jungen Frau, gab ihre Staatsbürgerschaft auf und schickte ihren Personalausweis an den Bundespräsidenten zurück.
Zusammen mit ihrem Freund, der sich Öff!Öff!" nennt, gründete Tü!Tü!" nahe Schwerin ein Haus der Gastfreundschaft", eine Landkommune. In einem Gebäude, das ihnen vom ehemaligen Eigentümer zur Nutzung, überlassen wurde.
(eingefügt von ÖffÖff: im Sinne moralischer Nutzungsrechte“ als einzigem moralischen und daher gültigen Besitzverständnis)
Dort führen sie ein Leben ohne Strom und fließendes Wasser, und ohne Geld. Sie ernähren sich von den Resten der Wegwerfgesellschaft, leben in ausrangierten Möbeln, die sie umarbeiten. Sie teilen ihre wenigen Habseligkeiten mit Obdachlosen, die ins Haus kommen. Ein Leben, mit dem Tü!Tü!" zufrieden ist. Ich glaube, daß nur glücklich wird, wer seinem Gewissen folgt."
Das Haus der Gastfreundschaft" ist der Anlaufpunkt für Brigitte Kälin alias Tü!Tü!". Von hier aus machte sie sich vor rund einem Jahr auf, um durch die Republik zu reisen — pilgern" nennt sie es selbst. Meistens fährt sie per Anhalter von einer Stadt zur anderen. Dort lebt sie von dem, was die Leute zu essen geben. Ich nehme auch von Behörden kein Geld. Es gibt Tage, da muß ich eben fasten." Und unter freiem Himmel schlafen. Manchmal bekomme ich auch einen Schlafplatz angeboten."
In Warburg sei es schwierig, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. Viele Leute gucken verwundert, aber gehen schnell weiter." Das sei nicht in allen Städten so. Es hat nichts mit der Größe zu tun. Ich war in anderen Kleinstädten, wo die Menschen offener waren."
Tü!Tü!" will weiterziehen, obwohl sie die Härten des Lebens auf der Straße inzwischen gut kennt. Wenn ich krank werde, muß ich hoffen, daß mich ein Arzt unentgeltlich behandelt. Man rutscht an den Rand der Illegalität, es gibt immer Schwierigkeiten mit Ordnungsämtern und Polizei." Und es ist der jungen Frau auch bewußt, daß ihr Leben auf der Straße ein Risiko ist. Ich kalkuliere es ein, daß ich auf der Strecke bleiben kann. Aber würde ich etwas anders machen, würde ich mein Gewissen verraten."
Eine ungewöhnliche junge Frau: Tüt!Tüt!" nennt sie sich, seit sie ihre bürgerliche Existenz hinter sich gelassen hat. In diesen Tagen war der Warburger Neustadtmarkt ihr Domizil.
Foto: Vogelsang

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